Lieber Matti, lieber Stefan Witschi, liebe Freundinnen und Freunde von Annick Tonti und von Matti, geschätztes Publikum. Es ist mir eine sehr besondere Freude, Sie heute in der Kürze der Zeit einzuführen in das komplexe Leben und komplexe Schaffen von Annick Tonti.
Es war für mich ein sowohl intensiver als auch erhellender Prozess, diese Ausstellung zusammen mit Matti vorbereiten zu dürfen. Ich möchte vorausschicken, dass ich, leider muss ich sagen, Annick Tonti nicht persönlich kennengelernt habe. Interessant war, dass ich sie doch irgendwie ganz nah kennengelernt habe, durch ihre Werke. Natürlich auch durch den intensiven Austausch, durch die wunderbare Publikation, die fantastische Monografie und dann durch ein intensives Studium ihrer Werke. An dieser Stelle gilt mein aufrichtiger Dank Matti Weinberg für die wunderbare Zusammenarbeit.
Wir präsentieren Ihnen heute rund 70 Werke, die nicht nur einen tiefen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen ermöglichen, sondern uns auch den Menschen Annick Tonti näherbringen. Annick Tonti hat ihr künstlerisches Werk in einer relativ kurzen, aber sehr intensiven Phase erschaffen - hauptsächlich in den letzten acht Jahren ihres Lebens. Diese Ausstellung und die begleitende Monografie sind die erste grosse Präsentation ihres Werkes seit ihrem Tod im letzten Jahr.
Ich möchte Sie heute auf eine Reise mitnehmen, auf eine kurze, auf eine kurzweilige kleine Reise. Für Annick Tonti war das Reisen zentral: das Erkunden neuer Ideen, das Überschreiten von Grenzen - geografisch, kulturell und geistig. Diese Offenheit und Neugier spiegeln sich auch in ihren Werken wider. Annick Tonti war stets auf der Suche nach neuen Perspektiven, und genauso laden ihre Werke uns ein, auf Entdeckungsreise zu gehen. In ihren Bildern finden wir Spuren von transkulturellen Verbindungen, von Freiheit und grenzenloser Neugier, die ihren künstlerischen Ausdruck prägen. Achten Sie auch auf die Titel ihrer Werke. Sie eröffnen eine zusätzliche Ebene, die uns vor unserem geistigen Auge auf eine Reise schickt - zu Assoziationen, Erinnerungen und neuen Perspektiven, die die Werke noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Annick Tonti stammt aus einer polyglotten Familie mit vielfältigen Wurzeln - tunesischen, französischen, baskischen und letztendlich auch schweizerischen. Doch wo beginnen diese „Roots" eigentlich? Sind sie allein an die Geburt gebunden, oder entstehen sie auch durch das gelebte Leben, durch die Erfahrungen und Verbindungen, die Menschen prägen?
Tontis Familie war geprägt von einem offenen Geist, in dem Weltkulturen nicht nur akzeptiert, sondern gelebt wurden. Architektur, Kunst und Tanz spielten eine zentrale Rolle, und der Austausch miteinander war selbstverständlich. Es war eine Familie, die stets über den eigenen Horizont hinausblickte - und genau darin, so empfanden sie, lag ihr grosses Glück.
Ihr Vater war Architekt. So war es vielleicht am Anfang fast logisch, dass sie auch Architektur studierte. Doch sie merkte schnell, dass ihr Architektur nicht reicht. Sie wollte weiter. Sie wollte nicht nur Häuser bauen; sie wollte ganze Environments bauen. Environments zwischen Menschen, in denen man weiterdenken und Neues denken kann.
Deshalb wechselte sie zur Kultur- und Sozialanthropologie, studierte in Zürich, was ihr die Möglichkeit gab, noch tiefer in das Verständnis für die Welt einzutauchen.
Ihre bemerkenswerte berufliche Laufbahn als Diplomatin und Ethnologin führte sie an bedeutende internationale Schauplätze. Sie arbeitete an Entwicklungsprogrammen, die sich auf soziale Gerechtigkeit und interkulturelle Verständigung konzentrierten, und sie leitete wichtige Friedensprojekte in Krisenregionen. Es war Annicks tiefe Überzeugung, dass nur das Miteinander über kulturelle und politische Grenzen hinweg eine bessere Zukunft möglich macht.
Gerne möchte ich Ihnen an dieser Stelle eine Sendung mit Annick Tonti ans Herz legen: Vor fast genau zehn Jahren war sie in der Radiosendung „Musik für einen Gast". Diese Sendung ist immer noch online. Es macht so Spass, Annick Tonti zuzuhören und mehr von ihrem Denken zu erfahren. Für mich war es auch ganz wunderbar, ihre Stimme zu hören.
Aber was hat sie schliesslich zur Kunst gebracht? Matti Weinberg hat es kurz angedeutet: Er war es, der sie ermutigte, ihre lange gehegte Leidenschaft für die Kunst zu leben und sich ganz dem kreativen Schaffen zu widmen. Dieser Schritt markierte einen Wendepunkt in Annicks Leben.
An einem bestimmten Punkt in ihrem Leben nahmen die vielen wichtigen Friedensprozesse, an denen sie beteiligt war, eine neue Form an - die Kunst. Die Kunst wurde für Annick Tonti zur neuen Perspektive, aus der sie die Welt betrachtete. Dies war für Annick Tonti ein Wendepunkt in ihrem Leben.
Ich habe nun versucht, drei zentrale Themen zusammenzufassen, die ich Ihnen als kleinen Schlüsselbund für die Erkundung von Annicks Werk mitgeben möchte. Es sind drei Themen: Erstens ihr Künstlername. Woher kommt der eigentlich? „moholinushk" - was ist das für ein Künstlername? Dann ihr Umgang mit Formen und Farben. Und das dritte Thema: Was können wir eigentlich aus ihrem Werk lernen?
Ich beginne mit dem ersten Thema, mit dem Namen, mit dem Künstlerinnennamen „moholinushk". Es ist interessant: Das Wort ist eine Anspielung, eine Annäherung an den Namen und an den Künstler László Moholy-Nagy, einer der wichtigen Pioniere der Bauhauszeit. Aber auch an das, wo er herkommt. Was sind eigentlich Einflüsse? Woher kommen sie? Wie kann man mit unterschiedlichen Einflüssen eine Kontinuität in der Kunstgeschichte und in der Kunst schaffen? Denn auch Moholy-Nagy war beeinflusst, nämlich vom Suprematismus. Für Annick Tonti war ihre Künstlerinnenname nicht nur einen Hommage an Moholy-Nagy, sondern auch ein Ausgangspunkt, um ihre eigene Identität als Künstlerin zu formen. Sie nahm diesen Namen an, um ihre Reise in der Welt der Kunst mit einer klaren Richtung zu beginnen und sich gleichzeitig die Freiheit zu bewahren, neue Horizonte zu entdecken. Moholy-Nagy war bekannt für seinen interdisziplinären Ansatz, der Kunst, Technologie und Freiheit miteinander verband - und das überzeugte Annick: „Das passt zu mir, das ist mein Ausgangspunkt. Von dort aus gehe ich los." Losgehen heist nicht, für immer dort zu bleiben. Den schönen Anfang dieses Losgehens kann man im zweiten Raum um die Ecke sehen, dort sind vier Werke zu sehen, die am Anfang stehen.
Auf ihrem künstlerischen Weg hat sich Tonti unter anderem intensiv mit der japanischen Kultur auseinandergesetzt. Ich möchte nur einen Namen nennen, nämlich die Künstlerin Toko Shinoda, als eine ganz besondere Inspirationsquelle. Shinodas Umgang mit Kalligraphie, Form und Raum hat Tonti interessiert.
Wie Shinoda und auch Moholy-Nagy suchte auch Annick Tonti immer wieder die Balance zwischen Struktur und Freiheit. Balance zwischen Struktur und Freiheit, was bedeutet das genau? Freiheit bedeutet nicht, dass ich frei von Verpflichtungen bin. Verpflichtungen innerhalb einer vorgegebenen Struktur aufzubauen, war ein Thema, das Annick sehr interessierte. Offenheit und gleichzeitige Anbindung, ein Motiv, das sich durch viele ihrer Arbeiten zieht.
Wenn wir Annicks Bilder betrachten, sehen wir sofort ihre klare, aber dennoch freie Hand. Ihre Formen sind selten abgeschlossen - sie streben in die Weite, als würden sie sich weigern, in festen Grenzen zu bleiben. Das spiegelt ihre Vorstellung von Freiheit wider: die Kunst, das Leben, alles bleibt in Bewegung. Ihre Farbwahl ist ebenso bewusst wie intuitiv. Kräftige, ausdrucksstarke Farben treten in Dialog mit sanften, ruhigen Tönen. Doch Annick ging es nicht nur um die visuelle Wirkung. Die Formen und Farben, die sie verwendete, sind Mittel zur Bewusstmachung. Sie laden uns ein, innezuhalten, die Zwischenräume wahrzunehmen und die Stille genauso zu spüren wie die Dynamik der Farben.
Annick wusste, dass der Raum zwischen den Formen genauso bedeutend ist wie die Formen selbst. Diese Freiräume lassen ihre Werke atmen und schaffen Raum für Reflexion. Formen und Farben sind für sie nicht einfach nur ästhetische Mittel, sondern Werkzeuge, um den Blick zu öffnen, um die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen - mit mehr Tiefe, mit mehr Freiheit.
In der Kunstgeschichte begegnet uns der Begriff „pars pro toto" - ein Teil, der für das Ganze steht. Annick Tontis Formenwelt scheint diesen Gedanken auf faszinierende Weise zu erweitern:Ihre Arbeiten scheinen den umgebenden Raum mitzudenken und über ihn hinauszuweisen. Es ist, als würden ihre Linien und Formen noch lange nachwirken, weiterzeichnen, selbst nachdem sie den Stift oder Pinsel beiseite gelegt hat.
Wenn wir noch einmal an die anfänglichen Resonanzräume denken - ihre Herkunft, ihr Widerhall bei Moholy-Nagy und ihre Bedeutung -, wird deutlich: Es geht um ein „Aufbrechen", ein Sich-Öffnen für neue Möglichkeiten, das zugleich eine Verpflichtung mit sich bringt. Diese strategischen Entscheidungen - nennen wir sie einmal so - sind nicht nur theoretisch spürbar, sondern finden immer wieder Ausdruck in den Arbeiten von Annick Tonti. Genau das fasziniert mich: Diese Balance zwischen Offenheit und Struktur zieht sich wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Werk.
Ich glaube, Annick Tonti hat sich intensiv mit dem Konzept der Leere auseinandergesetzt. Betrachten wir ihre Arbeiten einmal unter diesem Aspekt: Wo schafft sie bewusst Leerstellen? Ein kleiner Exkurs: Stellen Sie sich vor, Sie gehen eine Strasse entlang und bemerken plötzlich, dass ein Haus, das immer da war, fehlt. Vielleicht haben Sie es nie bewusst wahrgenommen, und doch wird Ihnen seine Existenz erst in dem Moment klar, in dem es nicht mehr da ist. Mit solchen Fragen - „Was ist da, was fehlt, und ab wann bemerken wir das Fehlen?" - hat sich Annick Tonti auf faszinierende Weise beschäftigt. In ihren Arbeiten erforscht sie immer wieder das Wechselspiel von Präsenz und Absenz und wie diese unser Bewusstsein prägen.
Ich komme zum letzten Punkt und somit dann auch zum Schluss: Was können wir durch Annicks Werk entdecken? Annicks Werke sind nicht statisch; sie fordern uns auf, aktiv zu werden. Ihre Bilder bieten keine vorgefertigten Antworten. Sie schaffen Platz für Interpretation und lassen uns immer wieder neue Bedeutungen finden. Ihre Kunst ist lebendig, im ständigen Wandel - abhängig davon, wer sie betrachtet und wann. Annick hat in ihren Titeln oft Andeutungen gemacht, die uns einen Anstoss geben, ohne jedoch den gesamten Sinn offenzulegen. Sie fordert uns auf, tiefer zu schauen, mehr zu entdecken, die Schichten ihrer Bilder zu erkunden. Ihre Kunst ist wie ein unvollendetes Gespräch, das jeder von uns mit seinen eigenen Gedanken und Erfahrungen füllen kann.
Annick Tontis Reisen und ihre vielfältigen Beobachtungen der Welt spiegeln sich deutlich in ihren Werken wider. Ihre Kunst ist geprägt von den Eindrücken und Erfahrungen, die sie auf ihren Reisen sammelte, und dies zeigt sich auch in den Titeln ihrer Arbeiten. Oft laden die Titel dazu ein, den Betrachter auf eine gedankliche Reise mitzunehmen - sie öffnen einen Raum für Assoziationen und regen an, die Welt aus einer neuen, anderen Perspektive zu betrachten.
Annick Tontis Werke haben die Fähigkeit, tief in uns zu resonieren - wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen. Sie fordern uns heraus, unsere Abwehrmechanismen und Vorurteile zu reflektieren, all die Dinge, die uns prägen und ausmachen. Vorurteile sind nicht grundsätzlich schlecht; sie entstanden aus Erfahrungen und hatten einmal eine Bedeutung. Doch die entscheidende Frage ist: Sind sie heute noch sinnvoll?
Annicks Arbeiten bieten einen Raum, um diese Fragen zu stellen und neu zu denken. Sie sind eine Einladung an alle, die Kunst nicht nur betrachten, sondern mit ihr in Dialog treten wollen. Genau darin liegt die transformative Kraft ihrer Werke - sie öffnen Türen, die uns erlauben, uns selbst zu hinterfragen und Veränderungen zuzulassen.
Ich bin sehr dankbar, heute mit Ihnen allen hier zu sein, um diesen Raum gemeinsam zu teilen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!